Das geteilte Polen, 1795 - 1918

thumbnail of category Das geteilte Polen, 1795 - 1918

Die polnischen Teilungen sind so etwas wie das Alleinstellungsmerkmal der Geschichte Polens. Keine andere Nation verlor ausgerechnet am Beginn des Zeitalters des Nationalismus ihren jahrhundertealten Staat und bekam ihn für 123 Jahre nicht wieder. Allein schon die Frage, wie das passieren konnte, hat seitdem nicht nur die polnische Geschichtswissenschaft nicht mehr losgelassen. Die Antworten reichen von pessimistischen (“Wir waren schuld”) bis zu optimistischen Varianten (“Die anderen waren schuld”). Eine geradezu metaphysische Erklärung lieferte der polnische Messianismus der Romantik, der aus dem Tod Polens den Schluss zog, dass sich in seiner Auferstehung seine besondere Rolle in der Weltgeschichte offenbaren werde. Die Aufteilung des Landes zwischen seinen drei Nachbarn Russland, Österreich und Preußen (später Deutschland) hatte zur Folge, dass die früher polnischen Gebiete nun zu drei verschiedenen Staaten gehörten. Das Königreich Polen, das Königreich Galizien und Lodomerien und das Großherzogtum Posen nahmen sehr unterschiedliche Entwicklungen, was in Polen bis heute nachwirkt. Deshalb muss die Behandlung der Geschichte Polens im 19. Jahrhundert unbedingt auch die Geschichte der Teilungsmächte in dieser Zeit einbeziehen. Aber im Grunde haben sich alle tiefgreifenden Umbrüche dieses Jahrhunderts auf das geteilte Polen ausgewirkt und müssen deshalb in dieser Vorlesung behandelt werden. Die Vorstellungen, auf welche Weise die Polen ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen könnten, veränderten sich ständig, je nachdem, wie sich die politische Lage in Europa entwickelte. Jeder der zahlreichen Aufstände gegen die Teilungsmächte hatte einen anderen Charakter und andere Folgen. Außerdem gab es auch unter den Polen selbst unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, deren Interessen oft weit auseinanderlagen, so dass die gern beschworene Solidarität im Kampf gegen die Teilungsmächte in vielen Fällen nur ein frommer Wunsch blieb. Und natürlich haben sich auch nicht alle Polen 123 Jahre lang nur damit beschäftigt, um die Wiedergewinnung ihres Staates zu kämpfen (obwohl man es in Polen selbst oft so sieht). Viele arbeiteten lange Zeit in verschiedensten Bereichen mit den Teilungsmächten zusammen und profitierten davon. Umgekehrt hatten die polnischen Teilungsgebiete vielfach großen Einfluss auf die Entwicklung bei den Teilungsmächten. Letztlich erwiesen sich aber alle Bemühungen zur Integration der Polen in die großen Imperien als vergeblich. Als die Teilungsmächte sich nicht mehr einig waren und im Ersten Weltkrieg aufeinander losgingen, kam die Chance für die Polen und auch für andere Nationalitäten in Osteuropa. Welch große Veränderungen aber die Zeit der Teilung auch für die polnische Nation mit sich gebracht hatte, wurde daran deutlich, dass der neue polnische Staat ein ganz anderer war als der, der 1795 unterging.

Alle Medien